nachtgeschichten 4 - der alte mann
ich hasse bahnfahren. selbst am tag mag ich es nicht. und nachts erst recht nicht. das fängt schon am bahnhof an: die meisten bahnhöfe sind nachts die trostlosesten flecken der stadt. nur wer gar nicht mehr weiß wohin, der landet nachts hier. oder wer möglichst schnell weg will. und so sind die, die da bleiben müssen, mit ihren sorgen und nöten ganz allein. niemand kümmert sich um sie.
mein zug hat verspätung. auch das noch. nachts, bahnhof, zug verspätung - da kommt alles zusammen. bitte lieber gott mach, dass der zug bald kommt. er kommt nicht.
stattdessen kommt eine dieser einsamen gestalten und setzt sich zu mir. ein mann, er ist alt. oder vielleicht sieht er auch nur alt aus. und er riecht nicht ganz frisch, aber er fragt höflich und in einem völlig akzentfreien hochdeutsch, ob er sich neben mich setzen darf. wenn ich ganz ehrlich bin, wäre ich lieber allein. aber das bringe ich auch nicht übers herz. und die bank hat mehr als genug platz für zwei, ich könnte es ihm gar nicht verwehren, selbst wenn ich wollte. aber ich will nicht. oder besser: ich kann nicht.
der mann beginnt zu reden: er fragt mich. es wäre unhöflich, ihm nicht zu antworten. was ich mache, wo ich hin will, ob ich oft zug fahre. selbstverständlich, die fragen auch zu erwidern. doch was dann kommt, erschreckt mich.
es ist die lebensgeschichte eines mannes, der einst ein angesehener bürger seiner stadt war. und jetzt ganz unten ist - soweit, dass kaum noch jemand mit ihm spricht. er sagt, seit tagen hat niemand mehr mit ihm geredet. nicht aus böswilligkeit, sondern aus gedankenlosigkeit. er bewegt sich zwischen all den menschen am bahnhof und keiner spricht mit ihm! himmel, wie weit sind wir gekommen...
seine geschichte ist unwichtig - er erzählt sie, als wäre es nicht sein leben, das er da ausbreitet. als sei das alles jemand anderem passiert. er hat alles verloren. nein, FAST alles. etwas hat er noch: seine würde. der alte mann ist stolz. er bekommt keine stütze, er fällt niemandem zur last, obwohl er mit sicherheit hilfe brauchen könnte. er arbeitet für sein bescheidenes leben, viele ansprüche hat er nicht.
außer, dass jemand ihm zuhört. und mit ihm spricht. ich schäme mich, dass ich mit ihm nicht mal auf der bank sitzen wollte. jetzt bin ich froh darüber, dass der zug verspätung hat.
als er schließlich kommt, sind wir freunde. und ich bewundere diesen mann dafür, wie er lebt. ich wollte dieses leben nicht. aber er - er ist es wert, dass mehr menschen ihm zuhören und mit ihm reden.
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Geschrieben von
sannivosten | 11.01.2007 um 15:41 Uhr