nachtgeschichten 9 - glücksgefühle
vollmond. das fahle licht scheint so hell im zimmer, dass man jede einzelheit erkennen kann. in der bude ist es heller als an einem trüben tag, denke ich. "woran denkst du?", fragt mich sabine. ich lache. "dumme gedanken", sage ich. sabine ist mein roommate, meine zimmergenossin im internat. sie kommt aus gütersloh und aus einer sehr reichen familie. aber reichtum schützt offenbar nicht davor, unglücklich zu sein, denn das erzählt sabine immer wieder. wie unglücklich zuhause alle sind.
"bist du glücklich?", fragt sie. ich staune. "kannst du gedanken lesen?", frage ich zurück. sabine dreht sich in ihrem bett auf der anderen seite des zimmer zu mir um. "wieso?". "weil ich gerade über glück und unglück nachgedacht habe", erwidere ich. sabine lacht. "wie zwillinge", sagt sie.
sie hat recht. sabine und ich, wir verstehen uns wirklich wie zwillinge. seit wir zusammen ins internat gekommen sind, teilen wir uns ein zimmer. aber nicht nur das. wenn man so eng zusammen lebt, teilt man viel mehr. manches freiwillig, wie seine gedanken. manches unfreiwillig, wie seine albträume. manches bewusst ("kannst du mir mal einen von deinen slips leihen?"), manches unbewusst ("du siehst wirklich beschissen aus!"). dein glück, deinen spaß und deinen übermut bekommt die zimmergenossin genauso mit, wie deine ängste, deine not und dein versagen.
aber sabine hat mich noch nie enttäuscht. sie ist mehr als eine beste freundin. sabine ist mein zwilling.
"na, bist du's?" wie immer lässt sie nicht locker, bis sie eine antwort hat. "bist DU's?", frage ich zurück. vielleicht bemerkt sie den trick mit der gegenfrage ja nicht. "das gilt nicht," protestiert sie sofort. "ich hab zuerst gefragt." "ok, ok," sage ich. "glücklich, was ist das überhaupt?"
aus sabines zimmerecke kommt wieder ein lachen. ihr gesicht kann ich nicht sehen, dafür scheint der mond nicht genug auf ihre seite. er malt nur ein großes rechteck aus licht auf den zimmerboden. "typisch sanni. immer erst mal definieren. sag einfach! bist du's?"
ich überlege einen moment. ich denke an meine eltern, die mich lieben. meinen bruder, der ein teil von mir ist. meinen zwilling sabine. das glück in einem teil der erde zu leben, wo frieden herrscht. ich denke an die katastrophe in meinem leben. an die schwierigkeiten danach, ans erwachsen werden. und dann ist die antwort klar. "ja!", sage ich aus voller überzeugung. "ja, ich bin glücklich. und du?"
"ICH? ich bin super-glücklich", sagt die stimme aus der dunklen ecke des zimmers. "ich habe doch dich!". ich schüttele den kopf. irre. dasselbe habe ich doch eben auch gedacht. ich stehe auf, gehe zu ihrem bett, knie mich davor und nehme sabine ganz fest in dem arm. wie kann man unglücklich sein, wenn man eine solche freundin hat?
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sannivosten | 13.02.2007 um 15:29 Uhr