Jede Falte ein Jahr, jede Falte eine Geschichte. Gebeugt und gebückt, in einen Trenchcoat der bis zu den Knien reicht, steht er da und wartet auf Rückgeld. Seine tief liegenden Augen über eingefallenen Wagenknochen, das weiß-graue Haar welches nur noch den Hinterkopf bedeckt; Zeichen der Zeit die vergangen ist.
1918 geboren als unehelicher Sohn eine Wirtsdame in Ulm, zieht er nach dem Tod seiner Mutter 1923 mit fünf Jahren nach Straßburg zu seiner Großtante und wächst dort zwischen fünf Buben und vier Mädchen auf. Er lernt Französisch und besucht einige Jahr die Unterschule, bevor 1929 während der Weltwirtschaftskrise seine Großtante entscheidet "das es nicht länger gut sei" und er "gehen müsse". Er sei "alt genug" und "solle seine vier Sachen packen" und dann am nächsten Morgen verschwinden. Nach dem zweiten, tiefen Einschnitt in die Biographie des noch jungen Menschen, ist er ein erstes Mal auf sich alleine gestellt. Im Licht des Morgengrauen steht er auf den Straßen von Straßburg und fällt eine Entscheidung. Er entscheidet aufzubrechen. 120 km nordöstlich landet der damals elfjährige in Speyer am Rhein, um dort die nächsten neun Jahre beim Bruder der Mutter zu leben. Er besuchte regelmäßig die Schule, hilft in der Kanzlei des Onkels und verlebt gute Jahre. 1935 schließt er die Volksschule ab und arbeitet danach als Gehilfe bei seinem Onkel. In der Progromnacht vom 9. November 1938 wird er Zeuge, wie die Speyerer Synagoge in der Heydenreichstraße niedergebrannt wird. Dieses Erlebnis erschüttert ihn tief. Er sagte seinem Onkel, dass es ihm "unverständlich" sei, "warum Menschen derartiges tun". Es wäre "an der Zeit", dass er "wieder los ziehe", um "mehr von der Welt zu sehen und mehr zu verstehen". Am 11. November bricht der jetzt zwanzigjährige erneut auf, um Deutschland für 40 Jahre den Rücken zu kehren. Von Speyer reist er über Straßburg (ohne sich länger aufzuhalten) nach Basel. Es fasziniert ihn, wie hier die Sprachen Französisch, Deutsch, Schweizer-Deutsch und auch Italienisch aufeinander treffen. Die Dominanz des Schweizer-Deutsch, was er nicht ausstehen kann, treibt ihn jedoch weiter. Über Lyon schlägt er sich bis ans Mittelmeer durch und arbeitet in Montpellier sechs Monate als Hafenarbeiter. Als deutsche Soldaten am 1. September 1939 in Polen einfielen, hatte er bereits die Katalanische Hauptstadt Tarragona in Spanien erreicht. Zwei Wochen später nahm ihn ein angesehener "abogado" aus Valencia mit, der sich auf der Fahrt von dem Spanisch durchsetztes Französisch sprechenden jungen Mann derart angetan zeigt, das er ihn bittet, sein Gast zu sein. Aus dem Gast wird ein guter Freund der Familie und nach sechs Wochen und zahlreichen Gesprächen sowie Schachpartien (die sich nicht selten über Tage hinzogen), lädt er ihn ein, nicht nur weiter mit der Familie zu wohnen, sondern auch an der angesehenen Universidad de Valencia Jura zu studieren. 1943 schließt der 1918 geborene Sohn der Wirtsdame aus Ulm sein Studium der Rechtswissenschaften mit Auszeichnung ab und bewirbt sich bei der großen Spanischen Anwaltskanzlei Gonzales y Guti. Die international tätige Kanzlei nimmt den jungen Mann nicht nur in ihren Reihen auf, sie entsendet ihn zwei Jahre später aufgrund seiner Französisch-Kenntnisse nach französisch Guyana in Südamerika, wo er Geschäftskunden der Firma in dem kleinen Küstenland sowie im Nachbarland Suriname vertreten soll. In drei Jahren lernt er das Leben der Oberschicht in der Hauptstadt Cayenne kennen und wird zu einem beliebten Gast bei Empfängen und öffentlichen Veranstaltungen. Das ihm das "nur teilweise gefällt" und manches "Gehabe um den internationalen Wirtschaftsbesuch übel auf stößt" ist ebenso Teil dieser Zeit. Als Gonzales y Guti ihn 1948 in die bolivianische Hauptstadt La Paz schicken, hat er nicht nur zahlreiche Kontakte in den nördlichen Ländern Südamerikas geknüpft, sondern auch passables Englisch gelernt sowie einige Brocken brasilianisches Portugiesisch. In Bolivien hilft ihm beides freilich weniger. Man spricht Spanisch, was seit den Jahren in Valencia zweite Sprache des mittlerweile dreißigjährigen Mannes ist. Seine Aufgabe besteht in Bolivien darin, Spanische Wirtschaftsinteressen zu vertreten. In dieser Funktion ist er nicht nur für Gonzales y Guti tätig, sondern auch für den Spanischen Staat. Im eigenen Auftrag ist er es 1949, bei einer Reise durch das bolivianische Tiefland, die Städte Samaipata, Vallegrande und Santa Cruz. Er ahnt damals nicht, dass er wenige Kilometer von dem Ort nächtigt, an dem 18 Jahre später Che Guevara ermordert wird. Seine Konzentration ist in diesen Tagen wahrlich anders gebunden. Am 19. Dezember lernt er seine spätere Frau kennen, die Mestizin Maribel Guzman, die zweitgeborene eines reichen Spaniers und einer Guarani-Indigena. Sie entfacht in ihm, was bislang keine Frau vor ihr gekonnt hat und doch gerade in Südamerika einige versucht hatten. Ihre Begegnung wirkte so tief, dass er nicht nur nicht wieder nach La Paz zurückkehrte, sondern nie wieder seine Arbeit für Gonzales y Guti aufnahm. Auch nicht, als drei Monate nach dem Entschluss in den bolivianischen Subtropen zu bleiben, ein Entsandter der Kanzlei bei ihm persönlich auftauchte und ihm ein kaum auszuschlagendes Honorar dafür anbot, wieder in den Dienst zurück zu kehren. Mehr Geld als er in den vergangenen Jahren als Anwalt verdient hatte, konnte er jedoch ohne hin nicht brauchen. Denn in Bolivien war er mit dem was er hatte schon reich. Das war jedoch nicht der ausschlaggebende Grund, warum ihn nichts und niemand dazu bewegen konnte, wieder in den Kessel La Paz oder sonst wohin zurück zu kehren. Er war "angekommen". Das spürte er deutlich. "Und nicht nur bei ihr" sondern auch bei sich. Erst mit sechzig Jahren, im Frühherbst 1978, verlässt er wieder das Departamento Santa Cruz. Es ist seine Frau Maribel die ihn bittet zu erfahren, aus "welcher Welt" er komme. Vom Flughafen El Trompillo in Santa Cruz de la Sierra fliegen die beiden Abenteurer über Buenos Aires nach Madrid und von Madrid nach Frankfurt. Sie verlässt zum ersten Mal Bolivien, er kehrt nach 40 Jahren zurück nach Deutschland. Auf dem Weg mit dem Taxi vom Flughafen zum Frankfurter Hauptbahnhof schneidet ein Auto den Wagen, worauf hin der Fahrer auszuweichen versucht und dabei von einem LKW erfasst wird. Sowohl der Fahrer als auch seine Frau sind auf der Stelle tot. Wie durch ein Wunder überlebt er den Unfall und kann nach zwei Monaten das Krankenhaus verlassen.
29 Jahre später legt die Verkäuferin einen Euro dreiundsiebzig Rückgeld in die knochige, rot-bläuliche und nahezu durchsichtige Hand des Mannes. Der Kalender zählt das Jahr 2007.
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Jalobalus | 10.07.2007 um 02:51 Uhr